Im Vorwort zu seinem Buch "Outliers" erzählt Malcolm Gladwell eine interessante Geschichte über ein italienisches Dorf das damals fast komplett nach Amerika auswanderte.
ZitatAllein im Jahr 1894 beantragten 1.200 Bürger von Roseto einen Reisepass, um nach Amerika zu emigrieren, und ganze Straßenzüge des alten Dorfes blieben entvölkert zurück.
In Neu-Roseto gab es unter den Bewohnern fast keine Herzkrankheiten, was ziemlich ungewöhnlich war. Wissenschaftler versuchten die Ursache dafür herauszufinden. Es waren nicht die Gene und auch nicht die Ernährung. Es war das soziale Gefüge in dem die Bewohner zusammenlebten was sich als sehr fördernd für ihre Gesundheit herausstellte.
ZitatAlles anzeigen...Allmählich erwachte Neu-Roseto zum Leben. In ihren Hinterhöfen hielten die Rosetani Schweine, und auf den Hängen bauten sie Wein an. Sie errichteten Schulen und ein Kloster und legten einen Friedhof und einen Park an. Entlang der Hauptstraße wurden kleine Läden, Bäckereien, Restaurants und Bars eröffnet. Es entstand ein halbes Dutzend Textilmanufakturen, in denen Hemden und Blusen hergestellt wurden. Die Einwohner des Nachbarorts Bangor waren überwiegend Einwanderer aus Wales und England, der nächste Ort war mehrheitlich deutsch, und da die Beziehungen zwischen Engländern, Deutschen und Italienern damals eher unterkühlt waren, blieb Roseto fest in italienischer Hand. Die wenigen auswärtigen Besucher, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Hauptstraße entlanggingen, hörten nur Italienisch, oder genauer gesagt den Dialekt, der in der Gegend um Foggia gesprochen wurde. Neu-Roseto in Pennsylvania war eine eigene kleine Welt und existierte in weitgehender Abgeschiedenheit vom Rest der amerikanischen Gesellschaft. Dies hätte sich auch kaum geändert, wenn da nicht ein Mann namens Stewart Wolf gewesen wäre. Wolf war Arzt mit Spezialgebiet Verdauung und unterrichtete Medizin an der University of Oklahoma. Seine Sommerferien verbrachte er auf einem Bauernhof in Pennsylvania, ganz in der Nähe von Roseto. Das hat allerdings nicht allzu viel zu sagen, denn der italienische Ort war derart isoliert vom Rest der Welt, dass man in der Nachbargemeinde leben und trotzdem nichts über Roseto wissen konnte. »In den Sommerferien – es muss Ende der Fünfzigerjahre gewesen sein – bin ich einmal von einer Ärztevereinigung aus dem Bezirk zu einem Vortrag eingeladen worden«, erinnerte sich Wolf Jahre später in einem Interview. »Nach dem Vortrag hat mich einer der Ärzte zum Essen eingeladen. Bei einem Glas Bier hat er mir erzählt, ›Ich praktiziere seit 17 Jahren in dieser Gegend. Meine Patienten kommen aus der ganzen Region, aber in Roseto habe ich kaum jemanden unter 65 mit einer Herzerkrankung.‹«
Wolf war überrascht. Man schrieb die Fünfzigerjahre, cholesterinsenkende Mittel und Vorbeugungsmaßnahmen gegen Herzerkrankungen waren weit und breit noch nicht in Sicht. In den Vereinigten Staaten waren Herzinfarkte eine Volkskrankheit und die häufigste Todesursache für Männer unter 65 Jahren. Für einen Arzt war es damals nahezu unmöglich, nicht mit Herzkrankheiten zu tun zu haben.
Wolf beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Er fand Unterstützung bei seinen Studenten und Kollegen in Oklahoma. Sie sammelten Totenscheine der Bewohner von Roseto und gingen so weit in die Vergangenheit zurück, wie sie konnten. Sie werteten die Archive in den Arztpraxen aus und rekonstruierten mithilfe der Krankenakten Familienstammbäume. »Wir haben 1961 mit unserer Arbeit angefangen und zunächst eine grobe Voruntersuchung durchgeführt«, berichtete Wolf. »Der Bürgermeister hat uns versprochen, ›Ich schicke Ihnen meine Schwestern, die sollen Ihnen helfen.‹ Er hatte vier Schwestern. Für unsere Untersuchungen hat er uns den Sitzungsraum des Gemeinderats angeboten. Ich habe ihn gefragt, wo denn dann der Gemeinderat seine Sitzungen abhält, aber er hat nur geantwortet: ›Die verschieben wir dann eben.‹ Seine Schwestern haben uns mit Essen versorgt. Wir haben kleine Kabinen aufgebaut, um Blut abzunehmen und EKGs zu erstellen. Beim ersten Mal waren wir vier Wochen da. Danach habe ich mich mit dem Gemeinderat unterhalten. Er hat uns über den Sommer die Schule zur Verfügung gestellt, und wir haben die gesamte Bevölkerung von Roseto zu den Tests eingeladen.«
Die Ergebnisse waren erstaunlich. In Roseto war kaum jemand unter 55 Jahren an Herzinfarkt gestorben oder wies auch nur Anzeichen einer Herzerkrankung auf. Bei Männern über 65 Jahren lag die Zahl der Todesfälle durch Herzerkrankungen um 50 Prozent unter dem Landesdurchschnitt. Genauer gesagt, war die Todesrate bei sämtlichen untersuchten Krankheiten in Roseto um 30 bis 35 Prozent niedriger als im Rest der Vereinigten Staaten.
Wolf holte sich Unterstützung bei einem Freund namens John Bruhn, einem Soziologen der University of Oklahoma. »Wir haben Medizin- und Soziologiestudenten angeheuert, die in Roseto von Tür zu Tür gegangen sind und jeden Einwohner über 21 befragt haben«, erinnert sich Bruhn. Das war vor mehr als 50 Jahren, doch Bruhn klingt noch immer erstaunt, wenn er die Ergebnisse beschreibt. »Wir haben keine Selbstmorde, keinen Alkoholismus, keine Drogenabhängigkeit und kaum Verbrechen gefunden. Niemand hat Sozialhilfe bezogen. Niemand hatte Magengeschwüre. Die Leute sind an Altersschwäche gestorben. Das war’s.«
Mediziner wie Wolf haben einen Namen für Ortschaften wie Roseto, die aus der Alltagserfahrung herausfallen und auf die normale Regeln nicht zuzutreffen scheinen. Sie sprechen von Ausreißern.
Wolf nahm zunächst an, die Rosetani hätten möglicherweise einige Ernährungsgewohnheiten aus der Alten Welt mitgebracht und seien deshalb gesünder als die übrigen US-Amerikaner. Doch er erkannte sehr schnell, dass dies nicht der Fall war. Die Rosetani kochten mit Schweineschmalz und nicht mit dem sehr viel gesünderen Olivenöl, das ihre Landsleute in der alten Heimat verwendeten. In Italien bestand die Pizza aus einem dünnen Teig, der mit Salz und Öl bestrichen und gelegentlich mit einigen Tomaten, Sardellen oder Zwiebeln belegt wurde. In Pennsylvania war die Grundlage der Pizza dagegen ein dicker Brotteig, der mit Wurst, Salami, Schinken und oft sogar mit hartgekochten Eiern belegt wurde. Süßes Gebäck wie biscotti und taralli, das es in der alten Heimat nur an Weihnachten und Ostern gab, wurde in Pennsylvania das ganze Jahr über gegessen. Als Wolf die Essgewohnheiten in Roseto von Ernährungsexperten analysieren ließ, stellte sich heraus, dass die Einwohner sage und schreibe 41 Prozent ihrer Kalorien in Form von Fett zu sich nahmen. Und natürlich stand in Roseto niemand vor Sonnenaufgang auf, um Yoga zu praktizieren oder zehn Kilometer zu joggen. Die Rosetani waren starke Raucher, und viele hatten mit Übergewicht zu kämpfen.
Wenn die Ergebnisse nicht durch Ernährungsgewohnheiten und Sport zu erklären waren, stellte sich die Frage, ob die außergewöhnliche Gesundheit vielleicht auf die Gene zurückzuführen war. Die Einwohner von Roseto stammten fast durchweg aus derselben Region in Italien, und Wolf überlegte, ob sie vielleicht aus besonders zähem Holz geschnitzt und deshalb vor Krankheiten geschützt waren. Also suchte er nach Verwandten der Rosetani, die in anderen Teilen der Vereinigten Staaten lebten, um zu untersuchen, ob sie die bemerkenswerte Gesundheit ihrer Vettern in Pennsylvania teilten. Die Antwort war Nein.
Also sah er sich die Region um Roseto an. Vielleicht gab es ja irgendetwas in den Hügeln von Pennsylvania, das sich besonders positiv auf ihre Gesundheit auswirkte. Die nächstgelegenen Ortschaften waren Bangor im Tal und Nazareth in einigen Kilometern Entfernung. Beide Ortschaften waren etwa genauso groß wie Roseto und wurden wie die italienische Enklave von fleißigen europäischen Einwanderern bewohnt. Wolf analysierte die Krankenakten in beiden Ortschaften und stellte fest, dass in Bangor und Nazareth dreimal so viele Männer über 65 an Herzerkrankungen starben wie in Roseto. Auch das war also eine Sackgasse.
Allmählich sah Wolf ein, dass das Geheimnis von Roseto weder Sport noch Ernährung noch die Gene oder die gesunde Umwelt waren. Es musste also an Roseto selbst liegen. Bei ihren Aufenthalten im Ort erkannten Wolf und Bruhn den Grund. Sie beobachteten, wie die Rosetani sich gegenseitig Besuche abstatteten, sich auf der Straße auf Italienisch unterhielten oder sich in ihre Gärten zum Grillen einluden. Sie lernten die komplizierten Verwandtschaftsbeziehungen kennen, die den gesamten Ort durchzogen. Sie sahen, dass oft drei Generationen unter einem Dach zusammenlebten und dass die Großeltern großen Respekt genossen. Sie besuchten die Messe in der Kirche Unserer Jungfrau Maria vom Berg Karmel und erkannten die gemeinschaftsbildende und befriedende Rolle der Kirche. Sie zählten sage und schreibe 22 verschiedene Vereine, und das bei knapp 2 000 Einwohnern. Sie erkannten den besonderen egalitären Geist der Gemeinschaft, der die Reichen davon abhielt, ihren Erfolg zur Schau zu stellen, und den Gescheiterten half, ihren Misserfolg zu verbergen.
Die Rosetani hatten die paesani-Kultur von Süditalien in den Osten von Pennsylvania mitgebracht und auf diese Weise eine robuste Sozialstruktur geschaffen, die sie vor den Belastungen der modernen Welt beschützte. Es war der Ort, aus dem sie kamen, der ihre Gesundheit ausmachte, und die Welt, die sie sich in ihrem kleinen Dorf in den Bergen geschaffen hatten. »Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch in Roseto. Ich habe gesehen, wie drei Generationen beim Essen zusammengesessen haben, die ganzen Bäckereien, die Leute, die auf der Straße spazieren gegangen sind und vor ihren Häusern gesessen und sich unterhalten haben. Ich habe die Nähereien gesehen, in denen die Frauen tagsüber gearbeitet haben, während die Männer in den Schiefersteinbrüchen waren«, beschreibt Bruhn. »Es war ein magischer Ort.«
Sie können sich vermutlich vorstellen, auf welche Skepsis Bruhn und Wolf stießen, als sie der medizinischen Fachwelt ihre Erkenntnisse präsentierten. Sie hielten Vorträge auf Konferenzen, auf denen ihre Kollegen gewaltige Datenmengen in komplizierten Grafiken zusammenstellten und hochspezifische genetische und physiologische Prozesse beschrieben, während sie über die geheimnisvollen gesundheitlichen Auswirkungen von Unterhaltungen auf der Straße und vom Zusammenleben dreier Generationen unter einem Dach sprachen. Damals ging man davon aus, dass eine hohe Lebenserwartung vor allem damit zusammenhing, wer man war – mit anderen Worten, mit den Genen. Unsere Gesundheit hing außerdem von unseren persönlichen Entscheidungen ab – was wir essen, wie viel Sport wir treiben und welche medizinische Versorgung wir erhalten. Niemand ging davon aus, dass Gesundheit etwas mit der Gemeinschaft zu tun haben könnte, in der wir leben.
Wolf und Bruhn mussten die Fachwelt davon überzeugen, Gesundheit und Herzinfarkte in einem völlig neuen Licht zu sehen: Sie mussten ihren Kollegen klarmachen, dass sie nicht verstehen konnten, warum jemand gesund war, wenn sie dessen persönliche Entscheidungen und Handlungen aus dem Zusammenhang herausgelöst betrachteten. Mediziner mussten lernen, über den Einzelnen hinauszublicken. Sie mussten die Kultur, die Familien, die Freunde und das soziale Umfeld der Menschen verstehen. Sie mussten erkennen, dass die Werte der Welt, in der wir leben, und die Menschen, mit denen wir uns umgeben, entscheidende Auswirkungen darauf haben, wer wir sind. Mit seiner Arbeit in Roseto hat Stewart Wolf unser Gesundheitsverständnis revolutioniert.
https://www.youtube.com/watch?v=fte-EOzSBL0